Grundlagen über Nahrungsnetze
In einem Ökosystem stehen Organismen in direkter oder indirekter Verbindung zueinander, wodurch komplexe Nahrungsnetze entstehen. Manche Organismen beeinflussen die Artenvielfalt in ökologischen Systemen verhältnismäßig stark und werden daher als Schlüsselarten bezeichnet. Auf der Ebene der DNA weisen bisherige Studien darauf hin, dass sich genotypische Variationen auf die Vielfalt und die Zusammensetzung in ökologischen Systemen auswirken. Welche Rolle dabei jedoch einzelne Gene übernehmen, ist bisher wenig untersucht.
Ergebnisse der Studie von Barbour et al.
In der Studie von Barbour et al. (2022) wurde ein Ausschnitt eines natürlichen Nahrungsnetzes, bestehend aus dem Pflanzenmodellorganismus Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana), zwei pflanzenfressenden Arten (Blattläusearten: Brevicoryne brassicae und Lipaphis erysimi) und einer kleinen Wespe, deren Larven sich in Blattläusen entwickeln (ein sogenannter Parasitoid; Art: Diaeretiella rapae) im Labor nachgeahmt. In der Natur werden Interaktionen zwischen diesen Organismen unter anderem über pflanzliche Stoffwechselprodukte (aliphatische Glucosinolate, auch Senfölglykoside genannt) gesteuert.
Gegenstand der Studie von Barbour et al. ist die Frage, ob eine Veränderung der Gene dieser Stoffwechselprodukte Einfluss auf die Zusammensetzung in einem Nahrungsnetz haben kann. Dafür wurden Ackerschmalwand–Pflanzen mit unterschiedlichen genetischen Varianten dieser Stoffwechsel-Gene im Labor in experimentelle Nahrungsnetze eingesetzt. Am Anfang bestanden diese immer aus verschiedenen Varianten des Ackerschmalwands, den beiden Blattlausarten und dem Parasitoid. Die ForscherInnen untersuchten dann, wie stabil das Nahrungsnetz über die Zeit war und welche Rolle die unterschiedlichen Genotypen des Ackerschmalwands dabei spielten.
Dabei stellte sich heraus, dass je mehr Pflanzen-Genvarianten in die Ökosysteme eingebracht wurden, desto niedriger die Aussterberate der Insekten war. In diesem Versuchsaufbau konnte gezeigt werden, dass Ökosysteme mit einer höheren genetischen Vielfalt deutlich stabiler sind. Eine spezielle Funktion konnte dabei vor allem bei einem Stoffwechsel-Gen (APO2) beobachtet werden: kommt es durch eine Mutation im APO2-Gen zu einem Funktionsverlust des Enzyms, sinkt die durchschnittliche Aussterberate der Insekten um 29 %. Der Grund: Die ForscherInnen konnten zeigen, dass durch den Funktionsverlust von APO2 die Pflanze schneller wächst, was wiederum zu höheren Wachstumsraten bei den Blattläusen führt. Dadurch wurde die Koexistenz von Blattläusen und Wespen begünstigt und somit das Nahrungsnetz stabilisiert. In den Ökosystemen, in denen die anderen Genvarianten überwogen, waren die Aussterberaten von Blattläusen und Parasitoiden höher.
Relevanz der Ergebnisse
Durch den herausragenden Einfluss eines einzelnen Gens sowohl auf die einzelnen Populationen des Nahrungsnetzes, als auch auf die Stabilität des betrachteten Nahrungsnetzes, bezeichnen die ForscherInnen APO2 als „Schlüsselgen“ – in Anlehnung an den Begriff der Schlüsselarten. Um die Relevanz dieser Schlüssel-Pflanzengene für Nahrungsnetze im Freiland zu bestätigen, sind allerdings weitere Studien mit größeren experimentellen Nahrungsnetzen sowie vor allem Freilandstudien notwendig.
Die Studie weist jedoch zwei interessante Aspekte auf: Zum einen stützt sie die Beobachtung, dass eine höhere genetische Vielfalt zu einer größeren Stabilität innerhalb eines Ökosystems beiträgt. Eine hohe genetische Diversität ist damit wichtig für die Stabilität von Ökosystemen und den Artenschutz. Schon der Verlust einzelner Schlüsselgene in einer Art, könnte die Zusammensetzung und Aussterbewahrscheinlichkeiten anderer Arten im Nahrungsnetz bedeuten. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass selbst, kleine, präzise genetische Veränderungen, z.B. durch neue molekulare Methoden, weitreichende Konsequenzen auf ganze Nahrungsnetze und Ökosysteme haben können. Die Ergebnisse sind damit auch für die Diskussion um die Risikobewertung und den möglichen Einsatz neuer Gentechnikmethoden wichtig, mit denen Kultur- oder Wildarten verändert werden können.
Quelle
Barbour, M. A., Kliebenstein, D. J., & Bascompte, J. (2022). A keystone gene underlies the persistence of an experimental food web. Science, 376(6588), 70-73.